Schwärmen dürfen

Kleine, sehr subjektive Literaturwochenrückschau

Auch wenn ich längst nicht alle Lesungen miterlebt habe, möchte ich doch ein wenig schwärmen dürfen.

DO, 25.4. Was für ein Auftakt: vom Urknall der Erde erzählt zu bekommen und wie ERSTE ERDE EPOS (was für ein Titel!) entstand, hemdsärmlig nahbar Raoul Schrott, mit dem man später in der Pizzeria zusammensitzt, bis er sich auf die Rückfahrt in den Bregenzer Wald gemacht hat.

SO, 28.4. EinsteinHaus. Im Foyer frage ich die türkische Putzfrau nach dem „Unteren Saal“, sie deutet die Treppe hinauf und sagt: „Oben“, was mir angesichts des Titels MAGIE VON RAUM UND (W)ORT als eine geradezu poetische Antwort erscheint. Olaf Velte, Axel Dielmann und Florian L. Arnold als erprobtes Trio aus Lesung und launigem Gespräch.

MO, 29.4. Nachtschwärmerinnen: Meine Kolleginnen schwärmen von Patrick Modiano und Schalom Asch, ich von Annie Proulx und der manchmal schmerzlichen Intensität ihrer Beschreibungen. Intensive Nähe in der Aegis Buchhandlung. Nachklang in der BAR, bis lang nach Mitternacht. Gegen jede Wochenanfangsvernunft. Auch das kann Literatur.

DI, 30.4. ARCHIPEL. Um 19:28 Uhr öffne ich die Tür zur Ulmer Stadtbibliothek. Im Augenwinkel ein quer über dem Plakat der Autorin klebender Streifen und eine böse Ahnung. Die enttäuschten Gesichter von Florian und Rasmus an der Kasse bestätigen das: Wegen eines Trauerfalls in der Familie musste die Lesung von Inger-Maria Mahlke, Buchpreisträgerin 2018, abgesagt werden. Ich gehe zurück nach Neu-Ulm, es ist noch hell, umkreise das Kriegerdenkmal von Edwin Scharff auf dem Schwal, studiere die Figuren darin und werde nicht schlau. Doch ich ahne schon lange: Die am Modell des kleinen Neu-Ulm nachgezeichnete Geschichte Deutschlands ist ein Abbild dramatischer Veränderungen und Aufbrüche.

DO, 2.5. Literaturwochen-Quartett bei Aegis. Spannend, unterhaltsam, meinungsstark, manchmal arg polemisch – wie wohl jedes Streiten über Literatur. Doch was die Runde, EHRLICH GESAGT, verpasst, ist das Momentum, die Diskussion ins Publikum zu öffnen.

DO, 2.5. Late Night. Der Weg von der Hafengasse in die Neu-Ulmer Putte macht den Kopf frei, tut gut. Hell erleuchtet der vermeintliche Barber Shop. Weiße Holzstühle im Halbkreis vor dem Schaufenster, im hinteren Raum wirft ein Projektor Fotos an die Wand, russische Provinz, das Kribbeln des Schauderns. Einer mit Hut erzählt, sagt was zu den Bildern. Dass er der Autor ist, stellt sich erst allmählich heraus. Wieder dieser Reiz des spontanen, unverkrampften Insgesprächkommens, mit wem auch immer. Und dann, als man im Halbkreis sitzt, erzählt Hendrik Jackson von seinem Russland-Projekt, und dann liest er. Großartige Gedichte, so unprätentiös vorgetragen, dass das Eigenwillige daran einen mit einer Wucht trifft, die wie nachgelagert, aber umso heftiger aus einem selbst kommt. Das runde Buch, als perfekte Form der Umsetzung vom Autor gelobt, spielt eine Haupt-Rolle in diesem Schaufenster zur russische Provinz. Nur einmal, als, mitten im Text, jemand aus der letzten Reihe „Kann ich noch ein Bier haben“ ruft und dann minutenlang lärmend der Kühlschrank durchsucht wird, fällt man aus den gelesenen Zeilen und findet sich irgendwo zwischen russischer und schwäbischer Provinz.

SO, 5.5. Mit Philipp Weiss auf dem Münsterturm AM WELTENRAND. Nach 392 Stufen immer im Wendeltreppenkreis herum sitzen die Menschen auf kalten Kirchenbänken und staunen. Welch furioses Konzept, welches Commitment an ein Werk, welch atemlos leidenschaftliches Lesen, welch hoher Ton. Nur die Gitarrenlieder sind ein paar Nummern zu klein. Die hätte es nicht gebraucht. Oder doch. Sie holen uns zurück, weg vom gefährlichen Rand.

DO, 9.5. ICH KANN DICH HÖREN. Katharina Mevissen. Stimmiger Nachspann in der Nestwärmeenge bei Aegis. Schon ist der Regalabsatz mein Stammplatz geworden, diesmal in gefährlicher Nähe zum Cellobogen. Nähe verbindet, Literatur verbindet, die Lektorin ist der Autorin verbunden, und die Autorin ein großes Talent. Eine dieser jungen Frauen, die beschließen, Schriftstellerin zu werden, und es einfach und ernsthaft tun. Ungewöhnliche Themen, Figuren in bewusster Distanz zum Autobiographischen. Wunderbar, dass dies gelingt. Und wie. Das kann man hören. Und die Musik, hier passt sie vielstimmig zum Text.

Fußnote: Rasmus Schöll sei ein visionärer Buchhändler, wie großartig, dass es die noch gibt!, lobte die Lektorin. Dem kann ich mich nur anschließen. Mit Dank für eine ebenso unprätentiöse wie inspirierende Festwoche der Literatur. Der Dank geht mit gleicher Verneigung an Florian L. Arnold. Den ich schon immer mal fragen wollte, wofür das L. in seinem Namen steht. Zumindest für die vergangene Woche sei vermutet: Literatur.

 

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